Goethe : Kunstwerk des Lebens ; Biographie

Safranski, Rüdiger, 2013
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Medienart Buch
ISBN 978-3-446-23581-6
Verfasser Safranski, Rüdiger Wikipedia
Systematik BB - Biographien
Schlagworte Biographie, Goethe, Johann Wolfgang von, 1749-1832
Verlag Hanser
Ort München
Jahr 2013
Umfang 748 S.
Altersbeschränkung keine
Sprache deutsch
Verfasserangabe Rüdiger Safranski
Annotation

Verliebt in Goethe

Rüdiger Safranskis hinreißende Biografie feiert den Klassiker für das Kunstwerk seines gelingenden Lebens. Von Ijoma Mangold

Das Verhältnis eines Landes zu seinen Klassikern zeichnet ein gutes Bild vom Geist einer Epoche. Was verrät es zum Beispiel über das späte 19. Jahrhundert, dass von den beiden Dioskuren Schiller weit höher im Kurs stand als Goethe? Im deutschen Patriotismus seiner Zeit sah Goethe vor allem einen Massenwahn, und es scherte ihn wenig, dass seine Landsleute ihn für einen Verräter hielten, weil er demonstrativ zu Napoleon hielt, der gerade die deutschen Lande verwüstet hatte, aber dem Weimarer Dichter bei einer persönlichen Begegnung in Erfurt geschmeichelt und ihm anschließend den Orden der Ehrenlegion verliehen hatte. Dieser Goethe, der auf dem nationalen Ohr so taub war, taugte nicht zum Übervater des Bismarck-Reiches. Überhaupt gilt: Man verehrte Goethe, aber um ihn war auch immer eine gewisse Kälte, Arroganz und Steifheit, mit der er sich allzu kollektiven Gemeinschaftsfreuden entzog.

In meiner Jugend und noch weit hinein in meine Studienjahre in den Neunzigern galt vom Dichterfürsten vor allem eines: Man hatte ihn gefälligst vom Sockel herunterzuholen. Diesen Satz hatte ich tausendmal gehört, auch immer brav dazu genickt und beigepflichtet, jawohl, vom Sockel runterholen, natürlich. Bis mir irgendwann ein böser Verdacht kam: Recht besehen hatte ich, solang ich denken konnte, noch nie und nirgends einen Sockel gesehen! Ich lebte eigentlich in einer total sockelfreien Zone. Niemand schüchterte einen ein mit Klassikerzitaten über das Wahre, Schöne und Gute. Stattdessen wurde Goethe und sein Werk "hinterfragt". Man wies ihm latente Homosexualität nach ("Selig, wer sich vor der Welt / Ohne Haß verschließt, / Einen Freund am Busen hält / Und mit dem genießt" – ha!), schmökerte in den Paralipomena zur Walpurgisnacht im Faust ("Seid reinlich bey Tage / Und säuisch bey Nacht / So habt ihrs auf Erden / Am weitsten gebracht") und warf Goethe Machtopportunismus vor, weil er sich nicht nur im Falle seines Sturm-und-Drang-Jugendfreundes Lenz für die Institution und gegen das Individuum entschied. "Es liegt nun einmal in meiner Natur, ich will lieber eine Ungerechtigkeit begehen, als eine Unordnung ertragen." Wie oft haben unsere antiautoritären Lehrer Goethe diesen Satz unter diese Nase gerieben!


Rüdiger Safranski ist der große Porträtist der deutschen Geistesgeschichte. Seine Biografien sind immer anschaulich und elegant, ohne den intellektuellen Kern ihres Gegenstandes je zu verkleinern. So gelingt es ihm ein ums andere Mal, die große literarisch-philosophische Erzählung Deutschlands für ein gegenwärtiges Publikum lebendig zu halten. Von der Romantik kommend mit einer vorzüglichen E.T.A.-Hoffmann-Biografie, hat er über Schopenhauer, Heidegger und Nietzsche geschrieben, um sich sodann der Klassik zu nähern: mit einer Schiller-Biografie und zuletzt einer Monografie über die Freundschaft zwischen Goethe und Schiller.

Jetzt hat Safranski eine Biografie Goethes vorgelegt – und abgesehen davon, dass sie erneut glänzend geschrieben ist, erfreut und überrascht sie vor allem dadurch, dass sie gerade nicht mit irgendeiner "Entdeckung" überraschen will: Es werden keine Abgründe aufgetan, Goethe wird weder demaskiert noch pathologisiert, auch sucht man vergebens jenen stereotypen Satz, den heutzutage sonst alle Biografen von ihrem Gegenstand behaupten, nämlich dass dieser viel "ambivalenter" oder "gebrochener" sei.

Oder ist vielleicht genau dies die allerneueste Stimmung im Westen? Nach Jahrzehnten der Dekonstruktion erfreuen wir uns jetzt wieder an der Einheit des gelingenden Lebens. Und keiner hat diese Einheit größer und vollständiger ausgefüllt als Goethe.

Ausgerechnet jene Seiten, die man Goethe im Nachgang von 1968 vor allem vorwarf, nämlich seine höfische Ambition, seine Neigung zum Zeremoniell, sein antirevolutionärer Affekt, sein evolutionäres Weltbild (Goethe verstand sich als Neptunist, im Gegensatz zu den Vulkanisten; er glaubte an die langsame Erdentstehung durch die Einwirkung der Meere, nicht an die plötzlichen Eruptionen der Vulkane) – kurz, all diese Eigenschaften, die ihn einst als restaurativen Finsterling entlarven sollten, zählen nun bei Safranski gerade zu seinen eindrucksvollsten Charakterzügen. Denn sie alle legen Zeugnis ab von seinem eminenten Wirklichkeitssinn. Goethe war nie bereit, für die Reinheit der Ideen die realen Phänomene zu opfern. Der schiere Moralismus, der sich nicht in der Realität bewähren muss und zu der typischen Großsprecherei der Literaten führt, war ihm verhasst.

"Der Handelnde", schreibt Goethe mit mephistophelischer Abgeklärtheit, "ist immer gewissenlos, es hat niemand Gewissen als der Betrachtende." Doch ein nur Betrachtender wollte Goethe nie sein. Sein höchster Begriff war: Tätigkeit. Tätig sein und Teilnahme war sein Mittel gegen alle melancholischen Anflüge, die er natürlich auch kannte. Aber er ließ dem Verdruss und der Verzagtheit, er ließ der Weltverneinung nie das letzte Wort. Wie sagt der Türmer in Faust II? "Ihr glücklichen Augen, / Was je ihr gesehn, / Es sei wie es wolle, / Es war doch so schön!"

Vermutlich gefällt uns das jüngste Biografiewerk aus Rüdiger Safranskis Feder auch deswegen so ungemein gut, weil wir seinen Blick auf Goethe aus vollem Herzen teilen. Safranski berichtet, dass Goethe eine Zeit lang einen Dolch auf dem Nachttisch liegen hatte, weil ihn Selbstmordgedanken quälten. Das war, bevor er den Werther, den Roman eines Selbstmörders, schrieb. Er hat seinen Lebensekel dann, auch schreibend, erfolgreich überwunden. Im Rückblick spricht Goethe von einer "Krankheit" – und das ist ihm so wichtig, wie Safranski pointiert ausführt, weil die Ursache einer Krankheit im Subjekt liegt, nicht in der Welt. Die Schwermut war damals eine verbreitete literarische Mode, man gab sich gerne den Hamlet-Gefühlen hin. Goethe, schreibt Safranski, habe sich dagegen gewehrt, dass "der Ekel zum Erkenntnisorgan aufgewertet wird. Der Ekel, so lehrt eine traurige Philosophie und Ästhetik, gibt Auskunft über die angeblich wahre, nämlich nichtswürdige Natur des Lebens. Mit anderen Worten: Der Ekel hat Recht. Das nun ist genau die Position, der sich Goethe in den späteren Jahren keineswegs anschließen will. Bloß keine Verurteilung des Lebens!"

"Wohl kamst du durch; so ging es allenfalls."

In den Zahmen Xenien heißt es: "›Wohl kamst du durch; so ging es allenfalls.‹ – / Mach’s einer nach und breche nicht den Hals." Goethe hat in seinem Leben eine atemberaubende Bandbreite an Interessen, Tätigkeiten und Ämtern vereint. Schon früh, mit dem Götz von Berlichingen , war er ein Dichterstar. Er war Minister in Weimar, zuständig für die Finanzen des Herzogtums, aber auch für den Bergbau. Letzteres wiederum kam seinen naturforscherlichen Leidenschaften entgegen: Die Steine, besonders der Granit, hatten es ihm angetan. Er untersuchte den menschlichen Körperbau, forschte über die Wolken und hielt große Stücke auf seine gegen Newton gerichtete Farbenlehre – die wissenschaftliche Welt wollte ihm darin, sein vielleicht bitterster Verdruss, nicht folgen.

Dies alles unter einen Hut zu bringen ist nicht nur eine logistische Meisterleistung, es zeigt Goethe auch als vielleicht letzten Universalisten. Und sein Universalismus hat eben wieder etwas mit seiner Weltbejahung zu tun. Wir lieben Goethe nicht nur wegen seiner Werke, sondern ebenso wegen seines Lebens: weil sein Weltbezug 12b2 nichts ausschloss. Safranski nennt seine Biografie deshalb zu Recht im Untertitel Kunstwerk des Lebens. Und die Formgesetze, die Krisen und Peripetien, die Schönheit und Weisheit dieses kühnen Lebenskunstwerks hat Safranski elegant, also süffig und zugleich präzise, beschrieben. Die noch nicht abgeschlossene Goethe-Biografie des englischen Germanisten Nicholas Boyle (drei Bände liegen derzeit vor) ist auch ein bedeutendes Werk anschaulicher Biografistik, Safranskis kompakter Zugriff aber bietet einen Goethe wie aus einem Guss.

Der junge Goethe war ein Mensch, der seine Umwelt glücklich machte. In jeder Gesellschaft war er der Mittelpunkt, er wirkte inspirierend auf seine Freunde, und man verbrachte gerne seine Zeit mit ihm. Das Dichten ging ihm leicht von der Hand, nie war es in den jungen Jahren Anstrengung. Fast wie nebenbei hat er die deutsche Lyrik erneuert. Kämpfte er sich durch Sturm und Gewitter auf einem Fußmarsch von Frankfurt nach Darmstadt, schon kamen ihm die entsprechenden Verse in den Sinn: "Wen du nicht verlässest Genius / Nicht der Regen nicht der Sturm / Haucht ihm Schauer übers Herz / Wen du nicht verlässest Genius, / Wird der Regen Wolke / Wird dem Schloßensturm / Entgegensingen wie die / Lerche du dadroben, / Wen du nicht verlässest Genius." Er konnte sich auf seinen Genius verlassen. Und noch heute ergreift uns Goethes Erlebnis-Lyrik aus der Sturm-und-Drang-Periode so unmittelbar, als würden auch wir, das Gedicht lesend, wieder wohlgemut gegen Sturm und Regen antrotzen.

Er war ein Götterliebling und ein wildes Originalgenie, das die Ketten der Konvention sprengte – wie es der Zeitgeist schätzte. Und doch schloss er ab mit dieser Phase. Als der Herzog Karl August Goethe 1775 nach Weimar einlädt, folgt er dem Ruf. Zwar waren auch die ersten Jahre mit dem blutjungen Herzog ziemlich ungestüm (und für die Mädchen Thüringens nicht ungefährlich), doch seine Funktion am Hof zwang Goethe eine Lebensform auf, die seine Jugendfreunde oft als zeremonial und unfrei empfanden. Goethe wollte seinen Lebenskreis erweitern, seinen Erfahrungshunger stillen. Er wollte auch den gesellschaftlichen Aufstieg, aber vor allem verlangte es ihn, sich im praktischen Leben zu beweisen und nicht nur im Wolkenkuckucksheim der Poesie.

Zum Kunstwerk dieses Lebens gehört aber nicht nur die Pflichterfüllung, sondern auch die Kraft zum kontrollierten Befreiungsschlag. Als Goethe nach neun Jahren in Weimar, fest eingebunden in die Regierungsgeschäfte, die Gefahr des "Eintrocknens und Einfrierens" übermächtig werden sieht, flieht er über Nacht in das Land, wo die Zitronen blühen: Endlich Italien! Und welches (nicht nur erotische) Glück ihm das Sehnsuchtsland beschert und wie er seine Lebenskrise in eine Wiedergeburt verwandelt, wie er sich als Klassizist neu erfindet und wie die Sonne des Südens die Schwermut des Nordens vertreibt, das alles ist als weltbejahende Lebenslust auch heute noch unwiderstehlich. Es ist Rüdiger Safranski gelungen, den Leser wieder ganz verliebt in Goethe zu machen.

http://www.zeit.de/2013/36/literatur-sachbuch-biografie-goethe-ruediger-safranski
Bemerkung Katalogisat importiert von: Österreichischer Bibliothekenverbund
Exemplare
Ex.nr. Standort
899 BB, Saf

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