Soldaten : Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben

Neitzel, Sönke, 2012
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Medienart Buch
ISBN 978-3-596-18873-4
Verfasser Neitzel, Sönke Wikipedia
Verfasser Welzer, Harald Wikipedia
Systematik GS - Soziologie, Recht, Staat
Schlagworte Quelle, Wahrnehmung, Kriegsverbrechen, Weltkrieg, 1939-1945, Selbstbild, Deutschland, Wehrmacht
Verlag Fischer-Taschenbuch-Verl.
Ort Frankfurt am Main
Jahr 2012
Umfang 520 S.
Altersbeschränkung keine
Auflage Ungekürzte Ausg.
Sprache deutsch
Verfasserangabe Sönke Neitzel ; Harald Welzer
Illustrationsang Ill.
Annotation
Sönke Neitzel und Harald Welzer: Soldaten Die moralische Innenseite des Kriegs

10.05.2011 · Abhörprotokolle als Quelle: Sönke Neitzel und Harald Welzer ziehen aus Schilderungen in Kriegsgefangenschaft geratener Wehrmachtssoldaten weitreichende Schlüsse über das Verhalten von Truppen im Kampfeinsatz.
Von Herfried Münkler
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Cover Soldaten © Verlag

Nicht politische Ideologien, sondern Kleingruppenerfahrungen sind entscheidend für die Kampfkraft von Soldaten, ihre Tötungsbereitschaft wie ihre Durchhaltefähigkeit. Neben dem Vertrauen in die Kompetenz der Offiziere ist es vor allem die Erfahrung von Kameradschaft, die eine Truppe zusammenhält und sie auch dann noch weiterkämpfen lässt, wenn die politisch-militärische Lage aussichtslos geworden ist. Diese klassische Einsicht der Militärsoziologie wird auf der Grundlage neuer Quellen nun auch wieder für die Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg geltend gemacht, und dies gilt, so der Historiker Sönke Neitzel und der Sozialpsychologe Harald Welzer, auch und gerade für den Krieg der Wehrmacht im Osten. Die nationalsozialistische Ideologie, die Gegenüberstellung von Herren- und Untermenschen sowie der Antisemitismus haben danach für das Agieren der deutschen Soldaten eine weit geringere Rolle gespielt, als dies zuletzt in vielen Publikationen behauptet worden ist.

Die einzige Ausnahme, die Neitzel und Welzer gelten lassen, sind die Massenerschießungen jüdischer Zivilisten, bei deren Beschreibung durch Wehrmachtssoldaten eine starke antisemitische Grundierung erkennbar ist. Wo sie fehlte, führte das dazu, dass sich die Soldaten von solchen Aktionen mehr oder minder deutlich distanzierten. Aber sobald von den Opfern solcher Massenerschießungen behauptet wurde, es handele sich um Partisanen oder Partisanenunterstützer, änderte sich das: Dann griffen die Vorstellungen von Rache und Vergeltung, und auch jene Soldaten, die sonst der NS-Propaganda skeptisch bis ablehnend gegenüberstanden, waren dann zu rücksichtslosem Waffengebrauch bereit.

Eine provokative Botschaft

Der Referenzrahmen, innerhalb dessen Ereignisse und Entwicklungen interpretiert werden, so Neitzel und Welzer, ist für das eigene Handeln und dessen Rechtfertigung entscheidend; in diesen Referenzrahmen können auch Versatzstücke von Ideologien eingehen, aber viel wichtiger sind die allgemeine Vorstellung vom Krieg und von besonderen Arten des Kriegs. In diesem Sinne haben Neitzel und Welzer dann auch die Aussagen von Wehrmachtsangehörigen über den Feind und ihre Art des Kämpfens mit Äußerungen amerikanischer Soldaten aus dem Vietnamkrieg oder dem jüngsten Krieg im Irak parallelisiert. Sie sind dabei zu dem Ergebnis gekommen, dass es keine relevanten Unterschiede gibt. Deswegen haben sie ihr Buch auch nicht im Hinblick auf den Zweiten Weltkrieg und die deutsche Wehrmacht betitelt, wiewohl es hauptsächlich darum geht, sondern ihm den allgemeinen Titel „Soldaten“ gegeben.

Das Wissen über die seelische und moralische Innenausstattung von in westliche Kriegsgefangenschaft geratenen Wehrmachtssoldaten wird zum Schlüssel für das Innenleben von Soldaten überhaupt, und der Zweite Weltkrieg bildet das Modell eines großen Krieges im Allgemeinen. Das ist eine provokative Botschaft, über die in den kommenden Monaten nicht nur in der Historikerzunft heftig diskutiert werden dürfte; es ist zugleich eine Revision, zumindest Umakzentuierung des Wehrmachtsbildes, wie es in der großen Ausstellung des Hamburger Reemstma-Instituts gezeichnet worden ist.

Nicht allein eine historische Quellenkritik

Was aber ist das Material, auf das Neitzel und Welzer diese weitreichenden Thesen stützen? Seit Kriegsbeginn hörten die Briten, später dann auch die Amerikaner in Gefangenschaft geratene deutsche Soldaten ab. Die Räume, in denen sich die Gefangenen aufhielten, wurden „verwanzt“, die interessant erscheinenden Äußerungen aufgezeichnet, anschließend verschriftlicht und auf diese Weise eine Sammlung von Quellen angelegt, die ihresgleichen sucht. Das Erstaunliche ist eigentlich, dass diese Quellen nicht schon früher herangezogen und genutzt worden sind.

So ist es Sönke Neitzel vorbehalten geblieben, als Erster die Fülle des Materials zu identifizieren und eine Reihe von Forschungsprojekten zu dessen systematischer Auswertung in Gang zu setzen. Dabei ist sehr bald klar geworden, dass man sich diesen „Schatz“ nicht aneignen kann, wenn man ihn allein einer historischen Quellenkritik unterzieht, sondern es eines interdisziplinären Zugriffs bedarf; und dazu hat der im Bereich der historischen Erinnerungsforschung ausgewiesene Sozialpsychologe Harald Welzer, der seine Methoden und Fragestellungen bereits mehrfach am Material der NS-Zeit erprobt hat, entscheidend beigetragen.

Spezifische Rahmenbedingungen

Es ist ein durch und durch heikler Typ von Quelle, mit dem man es hier zu tun hat: Da ist die Situation des Belauschens selbst, dann die spezifische Art des Zusammenbringens von Gesprächspartnern, die der Direktive folgte, dass die Abgehörten einander möglichst viel erzählen sollten - wobei die Möglichkeit des Übertreibens und Prahlens nie auszuschließen ist -, schließlich der Einsatz von Agenten, also gefangenen Wehrmachtssoldaten, die inzwischen für die Briten oder Amerikaner arbeiteten und gezielt bestimmte Themen ansprachen oder die Unterhaltung in eine bestimmte Richtung lenkten. Dabei interessierten sich die Briten vorwiegend für Kommandeure und Stabsoffiziere, um Informationen über neue Waffen und strategisches Denken zu bekommen, während die Amerikaner ein Bild von der Stimmung in der Wehrmacht insgesamt bekommen wollten und deswegen auch einfache Soldaten belauschten. Neitzel und Welzer wissen, dass sie nur ein bestimmtes Segment der Wehrmacht „mitbelauschen“, weil es sich ja nur um in Afrika, Italien oder im Westen gefangengenommene Soldaten handelt. Einige von ihnen hatten jedoch zuvor im Osten gekämpft, und davon erzählen sie auch. Aber es ist fraglos, dass sie in russischer Kriegsgefangenschaft, wo sie unmittelbar mit ihren Taten konfrontiert werden konnten, anders darüber gesprochen oder geschwiegen hätten.

Es sind die spezifischen Rahmenbedingungen amerikanischer oder britischer Gefangenschaft, die in die Unterhaltungen immer einfließen und bei der Auswertung der Quellen berücksichtigt werden müssen. Neitzel und Welzer haben das in hohem Maße getan. Und sie haben darüber hinaus auch die gruppendynamischen Konstellationen in Rechnung gestellt, in denen sich die Berichtenden befanden. Schließlich haben sie auch nicht außer Acht gelassen, dass sich die Einstellung zum Krieg während dessen Verlauf änderte und in den verschiedenen Teilstreitkräften und Waffengattungen erkennbare Unterschiede hinsichtlich Gewalterfahrung und Durchhaltewillen bestanden. Die quellenkritische Reflexion der Autoren ist also vorbildlich.

Ein großes Buch

Aber lassen sich aus einem insgesamt doch begrenzten Material so weitreichende Schlüsse ziehen? Einer davon lautet, dass die Intensität der Kampferfahrung und das zeitweilige Empfinden des Ausgeliefertseins die Bereitschaft fördern, sich von den Bestimmungen der Haager Landkriegsordnung und der Genfer Konvention dispensiert zu fühlen. Auch eine Vorstellung von „Fairness“ spielt bei der Bereitschaft, sich ans Kriegsrecht zu halten, offenbar eine wichtige Rolle. Aus dem Ersten Weltkrieg weiß man, dass bei der Eroberung eines Grabens die Bedienungsmannschaften von Masch a30 inengewehren, auch wenn sie kapitulierten, zumeist getötet wurden, während mit Karabinern bewaffnete Soldaten gute Aussichten hatten, gefangengenommen zu werden.

Auch den englischen Langbogenschützen des späten Mittelalters drohte der Tod, wenn sie französischen Rittern in die Hände fielen. Man hat das in der Regel darauf zurückgeführt, dass sie kein Lösegeld zahlen konnten. Haben Neitzel und Welzer mit ihren Überlegungen recht, dann ist für diese Behandlung die Art des Kampfes über die Distanz hinweg entscheidend, nicht das fehlende Lösegeld. Über diese Generalisierungen hätte man gern mehr erfahren und würde sich ihre stärkere Absicherung wünschen. Das aber ändert nichts daran: Es ist ein großes Buch, das Neitzel und Welzer geschrieben haben.
Bemerkung Katalogisat importiert von: Österreichischer Bibliothekenverbund
Exemplare
Ex.nr. Standort
5245 GS, Nei

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